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Durch Zwang zur Einsicht

Das Erziehungskonzept im Geschlossenen Jugendwerkhof folgte den allgemeinen Grundlagen sozialistischer Erziehung. Die besondere Aufgabe bestand darin, bei den Jugendlichen die Bereitschaft zur Umerziehung herzustellen. Sie sollte durch eine Art „Schocktherapie“ erzeugt werden. Gemäß dem traditionellen Erziehungsmotto „Wer nicht hören will, muss fühlen!“ sollte Einsicht einfach erzwungen werden.

Der theoretische Anspruch der pädagogischen Arbeit im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau wird in der Diplomarbeit seines Direktors Horst Kretzschmar deutlich. Unter Berufung auf den sowjetischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko sah das Erziehungskonzept, das Kretzschmar maßgeblich entwickelte, eine „im Gegensatz zu dem offenen Jugendwerkhof stark veränderte Lebensform“ vor. Diese sollte eine „explosive Veränderung“ des Verhaltens der Jugendlichen im Sinne des angestrebten Umerziehungsprozesses auslösen.

Eiserne Disziplin und Orientierung auf Normen kennzeichneten das Erziehungskonzept. Ein ausgeklügeltes Kontrollsystem und strenge Bestrafung jeder noch so kleinen Verfehlung sicherten es ab. Den Jugendlichen blieb keinerlei Freiraum. Als Grundlage dieser Disziplinierung diente die Arbeitsordnung des Jugendwerkhofes Torgau. Auf 86 Seiten wurden darin die Tagespflichten bis ins Kleinste geregelt. Durch „Kleiderordnung“, „Revierreinigungsordnung“ oder „Sicherheitsordnung“ war nahezu jeder Handgriff vorgeschrieben. Die Kollektiverziehung stand dabei stets im Mittelpunkt. Belobigt und bestraft wurde oftmals nicht der Einzelne, sondern die ganze Gruppe.

Im Kollektiv sollte Mitverantwortung für Disziplin und Ordnung übernommen werden. Dabei blieb die führende Rolle der Pädagogen jedoch unangetastet, eine inhaltliche Mitbestimmung der Jugendlichen gab es nicht. Es ging vorwiegend um formale Anpassung. Im Geschlossenen Jugendwerkhof führte das zu einer „Hackordnung“, wie sie sonst vor allem aus dem Strafvollzug bekannt ist. Besonders die Kräftigeren und Brutaleren setzten sich durch.

Geradezu zynisch wirkt Kretzschmars Feststellung in seiner Diplomarbeit: „In der Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen auf unsere Forderungen einzustimmen.“ Diese drei Tage verbrachten die Jugendlichen in Einzelarrest. Die vollständige Reglementierung des Alltags und die Sanktionen bei jeder Abweichung von der vorgegebenen Ordnung verfehlten ihre Wirkung nicht.

Horst Kretzschmar begann seine pädagogische Tätigkeit 1958 als unausgebildeter Erzieher. Nach Abschluss eines Fernstudiums als staatlich geprüfter Erzieher 1961 arbeitete er im Jugendwerkhof Groß-Leuthen und kam 1964 zunächst als stellvertretender Direktor nach Torgau. 1966 schlug ihn sein Vorgesetzter, Oberlehrer Günther Lehmann, für das Zusatzstudium Sozialpädagogik vor und bescheinigte ihm als besondere Leistung “Pionierarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit”. Nach zweijährigem Studium an der Humboldt-Universität Berlin legte er 1972 eine Diplomarbeit mit dem Titel “Die Entwicklung des Jugendwerkhofes Torgau und die sozialpädagogische Aufgabenstellung” vor. Bereits im August 1968 war Kretzschmar Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau geworden. In dieser Funktion blieb er bis zu seiner Erkrankung im März 1989. Er starb am Tag der Maueröffnung.